Leinen (und Stromkabel) los!

Was passiert, wenn sich ein Land aus dem europäischen Stromnetz herauslöst?

„Französisches Stromnetz! Französischer Strompreis!“, so forderten die französischen Rechten und Konservativen im letzten Wahlkampf. „Wir müssen uns aus dem europäischen Stromnetz herauslösen.“ Vor allem Deutschland war den entsprechenden Politikern ein Dorn im Auge, das ausgerechnet dann billigen Strom aus erneuerbaren Quellen im Überfluss exportieren kann, wenn die französische Stromindustrie, die weiterhin auf Atomkraft setzt, selbst Elektrizität absetzen muss, um die eigenen Kosten zu decken, das Land jedoch dringend Stromimporte benötigt.

Doch ist solche eine Forderung sinnvoll? Was wären die Konsequenzen? Und warum profitieren wir alle (auch Frankreichs Stromwirtschaft) langfristig vom europäischen Netzverbund? Diesen Fragen gehen wir in unserem Artikel nach.

Das Europa der (erneuerbaren) Energie

Solarstrom aus Spanien, Windenergie von der Nordseeküste, Wasserkraft von allen großen Strömen und sicher bald auch aus Gezeitenkraftwerken: Europa schickt sich an, seine Energieversorgung auf erneuerbare Quellen umzustellen und dabei seine Größe und Vielgestaltigkeit als Vorteil auszuspielen. Das länderübergreifende Übertragungsnetz mit seinen klar definierten Länderschnittstellen (den sogenannten Interkonnektoren) sorgt dafür, dass der Strom überall dort hinkommt, wo er gebraucht wird – notfalls auf Umwegen.

Von dieser Entwicklung profitieren letztlich alle, nicht nur die Umwelt und das Klima. Denn nach Stand der Technik heute ist Energie aus erneuerbaren Quellen unschlagbar günstig – und mithilfe des entstehenden Netzes aus Großspeichern auch bald rund um die Uhr verfügbar. Langfristig werden die Strompreise also sinken – sofern die Anbieter denn gewillt sind, die Preise an der Börse an uns Verbraucher weiterzugeben.

Doch was passiert, wenn sich ein Land aus diesem Netz herauslöst? Betrachten wir dazu einmal unseren westlichen Nachbarn.

Frankreich: Nachdenken über den nationalen Energie-Alleingang

Eine (inzwischen) historische Freundschaft

Nach dem Zweiten Weltkrieg versöhnten sich die ehemaligen Erzfeinde Frankreich und Deutschland – und eine Ära von Freundschaft und Zusammenarbeit begann. Heute gibt es kaum ein Feld ohne Kooperation – so auch in der Energiewirtschaft: Unser westlicher Nachbar ist aktuell unser größter Energielieferant – und gleichzeitig unser größter Abnehmer. Noch im Juni 2024 importierte Deutschland 1,6 Terawattstunden Energie aus Frankreich – und exportierte im Gegenzug 0,6 Terawattstunden. Warum dieses Hin und Her? Ganz einfach: Strom wird „Just-in-time“ produziert, bzw. angefordert. Und offenbar gibt es da große Differenzen hinsichtlich Produktion und Nachfrage dies- und jenseits der Grenze.

Der französische Wahlkampf 2024: Rechts auf dem Vormarsch

Entsprechend überrascht (und wenig amüsiert) war man daher auf unserer Seite, als die französischen Rechten des Rassemblement National sowie die konservativen Les Républicains im letzten Wahlkampf ein nationales französisches Stromnetz forderten – herausgelöst aus dem europäischen Gesamtnetz, mit eigener Strombörse und folglich einem eigenen französischen Strompreis.

Doch wie kam es zu dieser in Anbetracht der eben skizzierten langfristigen Entwicklung des deutsch-französischen Energiemarktes einigermaßen absurd und kontraproduktiv klingenden Forderung? Dazu müssen wir uns Frankreichs Stromerzeugung näher ansehen – und die Ereignisse des Sommers 2022.

Der trockene, heiße Sommer 2022 …

Unser westlicher Nachbar setzt bei der Stromerzeugung weiterhin einen Schwerpunkt auf die Atomenergie. 56 Kernkraftwerke generieren 70 Prozent des im Lande erzeugten Stroms. Das ist gut für die CO2-Bilanz – aber problematisch aus anderen Gründen. Und das meint nicht nur den Abfall, für den auch Frankreich Stand 2024 kein in Betrieb befindliches Endlager besitzt.

Im Sommer 2022 kam es an ganz anderer Stelle zu einer Extremsituation: Mehr als die Hälfte der Strommeiler waren inaktiv. Bei vielen stand die reguläre Wartung an, die aufgrund des geringeren Strombedarfs normalerweise in den Sommermonaten durchgeführt wird. Doch gleichzeitig führten viele Flüsse aufgrund des heißen Sommers und der damit verbundenen Dürre zu wenig und zu warmes Wasser – weitere Meiler konnten also nicht richtig gekühlt werden und mussten daher gedrosselt oder ganz vom Netz genommen und heruntergefahren werden.

Die Folge: In Frankreich wurde zu wenig Strom für den eigenen Bedarf produziert. Gut also, dass wir, die östlichen Nachbarn, dank des sonnigen Sommers über reichlich überschüssige und kostengünstige Solarenergie verfügten, oder?

Nun, gut war das vor allem aus Sicht der Verbraucher und Netzbetreiber. Weniger zu lachen hatten die französischen Energieproduzenten, die aufgrund des umfangreichen und günstigen Angebots aus Deutschland Schwierigkeiten hatte, den wenigen Strom, den sie selbst noch produzierten, abzusetzen; so überstiegen ihre Ausgaben schnell die Einnahmen. Diese Situation bestand zwar nur temporär und ein solide wirtschaftendes Unternehmen ist auf solch eine Schieflage vorbereitet – doch angesichts des sich wandelnden Weltklimas kann sich eine solche Lage in den kommenden Jahren durchaus wiederholen.

… und die möglichen Konsequenzen

Nun, jeder Mensch mit etwas wirtschaftlichem Sachverstand, der sich mal mit Risikominimierung auseinandergesetzt hat oder eine größere Summe Geldes anlegen musste, sieht die Lösung sofort: Diversifizierung heißt das Zauberwort, will man den Ertrag stabilisieren und die Risiken minimieren. Man setzt eben nicht alles auf eine Karte.

Entsprechend hatte der einseitige französische Fokus auf die Kernenergie im Sommer 2022 seine Risiken mehr als deutlich demonstriert. Und jeder Ökonom, jeder Risikospezialist, jeder Energieexperte hätte wohl einen zentralen Ratschlag bei der Hand: 70 Prozent Anteil der Kernenergie sind schlicht zu viel. Eine Diversifizierung der Produktion auf andere (erneuerbare) Energieträger wäre der sicherste Weg. Und wohl auch der kostengünstigste: Als Late Adopter könnte Frankreich nicht nur von der inzwischen ausgereiften und zur Commodity gewordenen Technologie bei Wind- und Solarenergie profitieren, sondern auch von den damit verbundenen günstigen Preisen. Kurz: Der richtige Kurs wäre „mit Vollgas in die Energiewende“ – Ausbau der internationalen Zusammenarbeit (siehe oben) inklusive.

Doch die rechten und rechtskonservativen Lager Frankreichs forderten das genaue Gegenteil: ein nationales, aus Europa herausgelöstes Stromnetz sowie eine noch größere Investition in die bisherigen Energieträger, allen voran die Atomkraft. Und es sieht so aus, als würden sie ihren Willen bekommen: Immerhin plant Frankreich bereits jetzt den Bau von 14 neuen Kernreaktoren.

Natürlich kann man das Problem mit „mehr vom Gleichen“ bis zu einer gewissen Grenze erschlagen, allerdings kaum kurz- oder mittelfristig. Zudem ist Kernenergie teuer, zumindest deutlich teurer als Wind, Wasser oder Solar. Der Strompreis würde also steigen. Und in einer Wiederholung der Situation vom Sommer 2022, dann jedoch mit einem kleineren, da nationalen Stromnetz, wäre die damit verbundene Strompreisvolatilität noch das geringste Problem. Vielmehr käme es wohl zu einer dramatischen Unterversorgung, aufgrund derer ganze Regionen zeitweise ohne Strom auskommen müssten: Solche „Rolling Blackouts“ kennen wir sonst nur von Nachrichten aus Schwellenländern wie Südafrika – wenn nicht gerade der amerikanische Bundesstaat Texas wieder entsprechende Schlagzeilen schreibt. Texas ist übrigens das perfekte Negativbeispiel:

Texas – Der Energie-Alleingang des Lone Star State

 Sezession – das ist die (manchmal gewaltsame) Abtrennung eines Territoriums von einem bestehenden Staatsgebilde in die Eigenständigkeit. Sezession ist jedoch auch ein Wort, dass immer wieder nicht nur durch die amerikanischen Medien geistert – etwa, wenn etwa am Rechts-Außen-Rand und außerhalb des Staates angesiedelte Pundits wieder einmal fordern, man möge Kalifornien mit seiner verdammten Umweltpolitik und seinem die Moral verderbenden Hollywood doch von den USA abspalten –, wenn man diese Monstrosität schon nicht im Ozean verklappen kann. Dieser Vorschlag stößt im Golden State übrigens auf wachsende Gegenliebe, da es man dort als einer der wirtschaftlichen Motoren der USA zunehmend satthat, die Hinterwäldler mit durchzufüttern und dafür vor allem Verachtung zu erfahren.

Sehr viel häufiger hört man die Forderung nach Sezession jedoch aus Texas. Gemäß des inoffiziellen Staatsmottos „Wo wir sind, ist vorne“ wähnt sich immerhin ein knappes Drittel der Einwohner besser dran, löste man nur die Leinen vom Rest der USA und durchsegelte fürderhin alleine die Ozeane der Welt- und Einwanderungspolitik.

Dass die amerikanische Verfassung gar keinen Mechanismus für solch einen „Texit“ vorsieht und der letzte Versuch südlicher Staaten, sich für unabhängig zu erklären, zu einem blutigen Bürgerkrieg geführt hat: Geschenkt! Man wird ja wohl noch träumen dürfen vom erneuten Aufstieg des Südens und der regionalen Großmacht Texas – jenes Staates mit einer Fläche, die doppelt so groß ist wie Deutschland, in dem jedoch nur 30 Millionen Menschen leben.

In einem Bereich hat der Staat seine Unabhängigkeit bereits durchgesetzt. Das US-amerikanische Stromnetz besteht aus drei Verbundnetzen: eines, das die östlichen Staaten umfasst, eines für die westlichen Staaten – und Texas. Das Stromnetz des Lone Star State ist nur noch äußerst lose mit dem Rest der USA verbunden.

Und wie der Wintersturm 2021 zeigte, ist dieses Strom- und Energienetz ist nicht gerade resilient: Aufgrund des starken Schneefalls kam es im Februar zu massiven Stromausfällen. Insgesamt waren zeitweise mehr als 4,4 Millionen Menschen ohne Strom, was bedeutete, dass auch die elektrischen Heizungen ausfielen. Durch die fehlenden Heizungen und die kalten Temperaturen kam es zu zahlreichen Todesfällen.

Über die Ursachen gibt es bis heute geteilte Meinungen. Da Texas massiv auf Windenergie setzt (trotz der geringeren Bevölkerungszahl verfügt der Staat über mehr als die Hälfte der Produktionskapazitäten von Deutschland), kamen die Gegner der erneuerbaren Energien schnell überein, es sei der Wind gewesen, der böse Wind. Dabei zeigen die Zahlen, dass die anderen Energieträger deutlich stärker weggebrochen sind.

Die Ursachen dürften viel eher in der massiv deregulierten Energiewirtschaft des Staats, maroden, unterdimensionierten, fragmentierten Netzen und einer fehlenden zentralen Ressourcenplanung zu suchen sein. Zudem entstehen Windkraftwerke vor allem dort, wo sich (aufgrund der geringen Landkosten und der guten Windausbeute) viel Geld verdienen lässt. Das Stromnetz ist jedoch dank Fragmentierung nur bedingt dafür ausgelegt, diesen Strom dann auch dahin zu transportieren, wo er gebraucht wird. Daher müssen immer wieder Windkraft- und Solaranlagen vom Netz gehen, obwohl der Bedarf grundsätzlich da wäre.

Das war die Situation in ganz groben Zügen. Eine detailliertere Darstellung mit Zahlen findet sich hier: https://www.easyenergiewende.com/post/wieso-deutschland-nicht-texas-ist-aber-texas-eine-insel

Marode Infrastruktur, Strommangel und Ausfälle gerade bei größter Hitze und klirrender Kälte – das ist wohl der Preis von amerikanisch missverstandener Freiheit und Unabhängigkeit, Kälte- und Hitzetote als Kollateralschäden inklusive. Da hört man fast Lord Farquaard sprechen, jenen untergroßen Antagonisten des Ogers Shrek: „Einige von euch müssen dabei vielleicht sterben. Aber dieses Opfer erbringe ich gerne.“

https://www.youtube.com/watch?v=hiKuxfcSrEU

Bigger is better: Warum ein möglichst großes Stromnetz sinnvoll ist

Dazu genügt es, auf einen ganz einfachen Fall eines Netzwerks zu blicken: Sagen wir, in unserem fiktionalen Netzwerk fallen die Leitungen zwischen jeweils zwei Netzpunkten unabhängig voneinander mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:10 aus.

Besteht unser Netzwerk aus zwei Knoten und einer Verbindung, dann beträgt die Ausfallwahrscheinlichkeit 10 %.

Nehmen wir einen dritten Knoten hinzu und verbinden jeden Knoten mit jedem anderen (für die Spezialisten: Ja, das ist ein Dreieck), haben wir nun drei Leitungen. Damit ein Knoten mit keinem anderen mehr (direkt oder über Umweg) verbunden ist, müssen zwei dieser drei Leitungen ausfallen. Das geschieht mit einer Wahrscheinlichkeit von 2,7 %.

Und beim vierten Knoten – und wieder ist jeder Knoten mit jedem anderen verbunden – erhalten wir schon sechs Leitungen, von denen mindestens drei (nämlich alle drei Leitungen zu einem Punkt) ausfallen müssen, damit ein Punkt isoliert ist. Das geschieht mit einer Wahrscheinlichkeit von 1,458 Prozent. Damit das Netz jedoch zerfällt und nicht mehr jeder Punkt von jedem erreicht werden kann, müssen mindestens vier Leitungen ausfallen. Hier liegt die Wahrscheinlichkeit schon bei 0,1215 Prozent.

Wir sehen also: Je mehr Knoten wir in unserem Netzwerk haben, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass der Strom nicht von einem Knoten zu einem beliebigen anderen fließen kann. Dabei muss nicht einmal jeder Knoten mit jedem verbunden sein. Es genügt nur eine gewisse Redundanz. Allein schon deshalb ist ein großes Netz mit entsprechend vielen Knoten resilienter als ein kleineres.

Eine ähnliche Rechnung ließe sich aufmachen, betrachtet man das Netz von der Erzeuger- und Verbraucherseite. Stünden sich nur ein Erzeuger und ein Verbraucher gegenüber, dann wäre der Verbraucher in seinem Energiekonsum durch die Kapazitäten des Erzeugers eingeschränkt – und umgedreht: Der Erzeuger könnte nur absetzen, was der Verbraucher konsumiert. Das ist zum Beispiel bei Heimsolaranlagen ohne Netzanbindung und Batteriespeicher der Fall – und die Betreiber solcher Anlagen dürften sich regelmäßig über die mangelnde Synchronität von Erzeugung und Verbrauch ärgern.

Je mehr Erzeuger und Verbraucher wir nun in ein Netz einbinden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwo im Netz ein Erzeuger genau die Energiemenge produziert, die wir benötigen. Und umgedreht findet sich auch umso wahrscheinlicher ein Abnehmer. Die Folgen sind ein stabileres Netz und auch ein stabilerer Strompreis. Und davon profitieren wir alle.

Notabene: Durch solch ein möglichst großes und resilientes Netz, das wir uns am besten als Netzwerk kommunizierender Röhren vorstellen, ist es dann auch möglich, dass der Strom aus Windenergie von der Nordsee seinen Weg nach Bayern findet – auch ohne Nord-Süd-Trasse, jedoch mit Umweg über ein bis zwei andere europäische Länder (in diesem Fall zumeist Polen und/oder Tschechien) – Herausforderungen und Gebühren an den jeweiligen Interkonnektoren und verstärkt notwendigem Ausgleich von Netzverlusten inklusive. Das summiert sich natürlich auch.

Fazit: Nationale Alleingänge ergeben keinen Sinn

Es dürfte deutlich geworden sein: Die Forderung der französischen Rechten und Konservativen macht aus Stromnetz- und Kundensicht keinen Sinn, sondern ist purer Populismus. Profitieren würden einzig die Kraftwerksbetreiber. Doch mit dem ersten Rolling Blackout wäre es wohl mit dem Energiepatriotismus in der Bevölkerung vorbei. Betrachtet man sich die Demonstrationskultur in Frankreich, die dort deutlich robuster ausfällt als bei uns, sollten die Kraftwerkbetreiber wohl besser gleich in höhere Mauern und stärkere Tore investieren. Und dieses Geld wäre in erneuerbaren Energien besser und in jedem Fall profitabler angelegt.

Rebekka Mutschler