Digitalisierung der Energiewirtschaft auf Basis von Blockchaintechnologie

Blockchain-Experte Stefan Thon hält den aktuellen Hype um die Blockchaintechnologie durchaus für berechtigt. Er rechnet damit, dass diese spezifische Form der digitalen Infrastruktur die dezentralen Energiemärkte bis spätestens 2020 durchdrungen haben wird.

Stefan Thon ist Co-Founder bei der STROMDAO und spricht bei der Handelsblatt Jahrestagung DIGITALE ENERGIEWIRTSCHAFT im Juni 2018 in Bonn zum Thema „Digitalisierung der Energiewirtschaft auf Basis von Blockchaintechnologie“.

Herr Thon, wieso zeigt sich die Energiebranche so träge bezüglich der Digitalisierung?

Der Energiemarkt wird derzeit von zwei unterschiedlichen, sich wechselseitig bedingenden Dynamiken transformiert: einer Dezentralisierung der Produktionsmittel sowie der Digitalisierung der Kommunikationsmittel.

Unmittelbare Folge der Dezentralisierung ist nicht nur die Vervielfachung und räumliche Ausbreitung von Erzeugungskapazitäten, sondern auch eine Vervielfachung der Marktakteure (als Betreiber der Anlagen); und zwar mindestens um den Faktor tausend. Alleine in Deutschland blickt die Branche sorgenvoll auf etwa 1.5 Million Photovoltaikanlagen(-besitzer) und 30 tausend Windräder, die mit dem Auslaufen der EEG-Einspeisevergütung ab 2020 wohl oder übel sukzessive in den Markt integriert werden müssen. Demgegenüber stehen derzeit lediglich ‘echte’ 1500 Marktakteure, die bspw. durch den BDEW organisiert werden und sich bereits heute nur noch unter teilweise erheblichen Aufwand sowie zu beträchtlichen Kosten in die staatlich regulierten Marktprozesse pressen lassen. Die unumgängliche Frage der Markt- und Systemintegration hunderttausender kleiner und kleinster Erzeugungsanlagen, die derzeit noch durch die Bestimmungen des Erneuerbare-Energien-Gesetz‘ von einem regulären Marktzugang ausgeschlossen sind, stellt das bisherige System vor existentielle Herausforderungen. Denn notwendig erscheint nicht nur ein fundamentaler Richtungswechsel auf der Ebene der Marktkommunikation und Marktprozesse, sondern gleichzeitig auch eine grundlegende Neustrukturierung des Marktdesigns insgesamt.

Der Energiebranche aber unter den sich abzeichnenden Herausforderungen den Vorwurf der Trägheit entgegen zu werfen, fällt mir ehrlich gesagt jedoch nicht leicht. Es ist halt alles leider nicht so einfach:  Insbesondere für Akteure, die gleichzeitig die schwerwiegende Verantwortung der Versorgungssicherheit zu tragen haben und zudem teilweise massivsten Pfadabhängigkeiten, aufgrund von Investitionen, die in der Vergangenheit getätigten wurden, ausgesetzt sind. Das gesagte bedeutet allerdings nicht, dass sich die Folgen der Dezentralisierung nicht auffangen lassen oder nicht aufgefangen werden mussten. Ein Weiter-wie-bisher ist auch keine Option. So existieren insbesondere im Zuge der sich durch die Digitalisierung der Kommunikationsmittel entfaltenden Dynamik durchaus vielversprechende Ansätze einer nachhaltigen Integration der neuen, bisher randständigen Akteure; angefangen vom Prosumer bis hin zur sich rapide elektrifizierten Automobilindustrie. Die Branche ist gut beraten, hier mehr zu tun als bisher. Denn an den neuen Marktteilnehmer vorbei existiert für die klassischen Energieversorger kein Pfad in die Zukunft.

Das Motto der Veranstaltung ist #mindshift. Was müssen die klassischen EVUs beachten, wenn Sie diesen „Mindshift“ im Sinne eines Kulturwandels bewältigen wollen?

Der Titel der Veranstaltung macht richtigerweise darauf aufmerksam, dass die maßgeblichen Herausforderungen, denen etliche Versorger gegenüberstehen, sich nicht alleine durch technischen Fortschritt bewältigen lassen, sondern vielmehr auch einen umfassenden kulturellen Wandel voraussetzen. Wenn man zu der Einsicht gelangt, dass der Kern der Digitalisierung der Energiebranche darin besteht, alle Marktakteure, inklusive der Endverbraucher(!), in ein dynamisches, dezentralisiertes Versorgungssystem koproduktiv einzubinden, so bedeutet das für die ‘klassischen’ EVUs nichts weniger als einen radikalen Paradigmenwechsel. Dieser erfordert eine umfassende Weiterentwicklung ihres bisherigen Selbstverständnisses, als einziger Garant von System- und Versorgungssicherheit, der den anderen Marktteilnehmern mit hoheitlicher Autorität ansagt, wo es langgeht. Stattdessen gilt es, in einen kooperativen Modus zu wechseln, der es ihnen ermöglicht auch kleinste dezentrale Marktteilnehmer und -partner produktiv in das Gesamtsystem einzubinden. Nichts anderes geschieht ja wenn es bspw. darum geht den Besitzer eines Elektrofahrzeuges zukünftig dazu zu bewegen, mit seinem Auto auf eine Weise umzugehen, die das öffentliche Stromnetz nicht übermäßig belastet. Beim E-Auto handelt es sich letztendlich um eine produktive Ressource in Privatbesitz, die zur Bewirtschaftung eines Engpasses aktiviert werden soll. Dies lässt sich in der notwendigen Größenordnung nur mittels offener Marktmechanismen und ihren spezifischen Preissignalen und Anreizsystemen bewerkstelligen. Die umfassende Markt- und Systemintegration solcher dezentralen Ressourcen ist hierfür unumgänglich. Der bisher übliche Reflex einer obrigkeitsstaatlichen Anordnung des gewünschten Verhaltens, führt mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine Sackgasse. Allerdings stehen den Besitzern von E-Autos sowie anderen dezentralen Marktakteuren derzeit noch überwiegend Versorgungsunternehmen gegenüber, denen die notwendigen organisatorischen und technischen Voraussetzungen fehlen, um auch in hochgradig dezentralisierten Märkten kooperativ und koproduktiv zu agieren. Denn die Herausbildung dieser Fähigkeiten, ist ohne einen gleichzeitigen Wandel des Selbstverständnisses und der ‘Kultur’ der Branche letztlich nicht erreichbar.

Warum ist Blockchain gerade regelrecht ein „gehypter“ Begriff in der Energiebranche?

Blockchaintechnologie wird bisweilen als ‘Konsensmaschine’ bezeichnet. Auch unser Elektrizitätssystem war und ist bis heute nichts anderes als eine gigantische Konsensmaschine; mit hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich beim Strommarkt um das komplexeste Konsenssystem, dass jemals erschaffen wurde. Bei blockchainbasierten digitalen Währungen wie Bitcoin dreht sich der zwischen den Marktteilnehmern zu schaffende Konsens um die Frage der Verteilung der im Umlauf befindlichen Geldmenge. Im Strommarkt dreht sich der zwischen den Marktteilnehmern zu schaffende Konsens um die Frage der Verteilung der im Umlauf befindlichen Energiemenge, mit der zusätzlichen Super-Anforderung, dass Stromerzeugung und Stromentnahme zu jedem Zeitpunkt gleich groß sein müssen. Dies erfordert beim Strom eine umfassende und fortlaufende Abstimmung und Koordination aller Marktteilnehmer. Garant dieses Abstimmungsprozesses sind verbindliche Standards der Marktkommunikation sowie die Marktprozesse. Konsensmacher im Stromsektor ist der Gesetzgeber, der die Marktregeln und Prozesse festschreibt, sowie die Netzbetreiber, die die Regeln und Prozesse in hoheitlichem Auftrag durchsetzen und überwachen.

Blockchainbasierte Netzwerke, wie Bitcoin oder Ethereum, unterscheiden sich von traditionellen Konsensystemen wie dem Strommarkt in erster Linie dadurch, dass die Schaffung und Aufrechterhaltung des marktübergreifenden Konsens auch ohne das Zutun zentraler Institutionen, wie bspw. Banken oder Netzbetreiber, möglich ist. Zählt man nun eins und eins zusammen, so wird offensichtlich das sich hier etwas Interessantes zusammenbraut. Denn das bisherige Konsenssystem im Stromsektor gerät hierzulande langsam an seine Grenzen. Ursache hierfür ist die fortschreitende Dezentralisierung des Marktes, die mit einer Vervielfachung der Produktionsmittel und der Marktakteure einhergeht. Dabei entstehen insbesondere an den äußeren Systemrändern neue Anwendungen und Anforderungen in einer Geschwindigkeit, die die regulatorischen Möglichkeiten des Gesetzgebers, in seiner derzeitigen Rolle als Konsensmacher, zusehends transzendieren. Bei einer weiter fortschreitenden Dezentralisierung des Energiesystems (insbesondere post EEG) erscheint die Herausbildung eines ebenso dezentralen ggf. blockchainbasierten Konsensmechanismus deshalb geradezu zwangsläufig.

Der derzeitige Hype im Energiesektor rund um das Thema Blockchaintechnologie, lässt sich meiner Einschätzung nach dadurch erklären, dass etlichen Marktakteure genau diesen Sachverhalt zumindest intuitiv wahrnehmen und verinnerlicht haben.

Ist der Hype berechtigt?

Ja, der derzeitige Hype um das Potential blockchainbasierter Anwendungen im Energiesektor ist unterm Strich gerechtfertigt.

Wird Blockchain-Technologie aus Ihrer Sicht „commodity“ im Energiesektor?

Bei der Blockchaintechnologie handelt es sich nicht um eine commodity sondern um eine spezifische Form von Infrastruktur im digitalen Raum. Die Technologie kann dabei helfen grundlegende Voraussetzungen auszubilden, die es ermöglichen dezentralisierte Energiemärkte zu strukturieren und zu organisieren. Es handelt sich also um eine Basistechnologie. Welche konkreten mehrwertstiftenden Anwendungen und Produkte auf dieser Grundlage sich herausbilden ist zunächst offen und abhängig einzig von der Kreativität und dem Erfindergeist der unterschiedlichen Marktteilnehmer.

Wann?

Ich persönlich rechne damit, dass blockchainbasierte Konsensmechanismen zur Strukturierung dezentralisierter Energiemärkte sich im Laufe der 2020er Jahre durchsetzen werden. Allerdings glaube ich, dass die Technologie im Alltag der meisten Anwender weitgehend unsichtbar bleiben wird. Immerhin haben auch Internetnutzer, die täglich E-Mails schreiben und twittern, wenn überhaupt, häufig nur eine sehr naive Vorstellung davon, wie das Internet funktioniert.

In allen Industrien werden neue (digitale) Produkte gesucht und gefunden. Es gibt erstklassige Learnings aus den unterschiedlichsten Branchen. Die Handelsblatt Tagung übersetzt die globalen Trends in die Businesswelt der Energiewirtschaft. Digitale Vordenker zeigen wie Kulturwandel funktionieren kann.